Comic Review: Simon Schwartz’ IKON (Avant-Verlag)
Mit der Bildung von Ikonen beschäftigt sich das Comictalent Simon Schwartz in seinem neusten, imposant betitelten Werk „Ikon“. Nun, um Ikonen geht es nicht nur, vielmehr dient dies als Rahmen für ein überaus emotionales Drama. Aber dazu später mehr. Der erfolgreiche Autor und Zeichner Schwartz hat es auf dem Comicmarkt mittlerweile sehr, sehr weit gebracht. Neben seinen Werken „Packeis“ oder auch „Drüben!“ dürfte vor allem seine Ausstellung „Das Parlament“ in der Abgeordneten-Lobby des Bundestages und seinen illustrierten Politiker-Biographien eine regelrechte Ausnahmestellung unter den heimischen Comicschaffenden eingenommen haben. Auf der Homepage des Comics lies Schwartz in den vergangenen Monaten einen kleinen Einblick in die Entstehung zu „Ikon“ gewähren, welche in der Summe ganze 6 Jahre Zeit in Anspruch genommen haben soll.
Gleb Botkin ist der Sohn des Leibarztes des russischen Zaren Nikolaus II. Der junge Gleb wuchs nicht nur unter strenger Hand seines der Zarenfamilie treu ergebenen Vaters heran, sondern auch aufgrund der Stellung dessen, im direkten Kontakt mit eben jenen Adeligen. Allen voran der mittlerweile legendären Anastasia Romanow, eine der fünf Kinder des Zaren. Gleb entwickelte schnell eine intensive Schwärmerei für die außergewöhnliche wie eigenwillige Anastasia, so dass sich eine mehr oder weniger enge Bindung der beiden entwickelte. Als die Oktoberrevolution erbarmungslos zuschlug, änderte sich alles schlagartig. Die Zarenfamilie wird im Ural interniert und die Botkins befinden sich an deren Seite. Das Massaker in Jekaterinburg überlebt der Junge nur knapp bzw. kann er diesem durch vorangegangene Flucht entgehen. Ein Punkt, an dem die Geschichte des Comics einsetzt. Über Umwege und enorme Anstrengungen gelangt der mittlerweile zum Mann heranwachsende Gleb in die USA, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Die Romanows, wie auch Glebs Vater, werden ermordet, verstümmelt, unkenntlich gemacht und an einem lange Zeit unbekannten Ort verscharrt.
Einige Jahre später gründet Gleb mit der „Kirche der Aphrodite“ eine der ersten neuheidnischen Religionen in den Vereinigten Staaten. Ungefähr zur gleichen Zeit taucht in Berlin eine junge Frau auf, die vorgibt, die angeblich verstorbene Zarentochter Anastasia Romanow zu sein und das Massaker überlebt zu haben. Abgesehen von einer äußerlichen Ähnlichkeit kann die Dame nicht viel mehr bieten, da sie weder russisch spricht, noch irgendwelche Erinnerungen an ihr vermeintliches Zuhause auffahren kann. Für die Klatschspresse spielt das jedoch nur bedingt eine Rolle, schließlich befindet sich de Frau in psychiatrischer Behandlung. Dies und die offenkundig fehlenden Erinnerungen seien vielmehr ein Beweis für das erlittene Trauma der jungen Dame. Ein Phänomen ist geboren, welches nicht nur Gleb Botkins künftiges Leben grundlegend beeinflussen sollte, sondern auch bis in die Popkultur reichte.
Hervorragend recherchiert und bis zum umgedeuteten Ende erzählt Schwartz seine Geschichte weitestgehend aufgrund der historisch belegten Fakten. So zeigt er den Wahn Botkins auf, der einfach nicht wahr haben wollte, dass es sich bei der jungen Dame um eine Betrügerin handeln könnte, da die „Ikone“ Anastasia einen mittlerweile gottgleichen Stand in seinem Leben, seinem Unterbewusstsein eingenommen hatte - seinen Hand dazu verdeutlicht bereits die von ihm gegründete „Kirche“. Da spielte es auch keine Rolle, dass die engen Verwandten der Zarenfamilie die mysteriöse Frau bereits ablehnten und ihr absprachen, die echte Anastasia zu sein. Mittlerweile wissen wir, dass besagte Frau eigentlich Franziska Czenstkowski respektive Anna Anderson hieß, einen Selbstmordversuch hinter sich hatte und psychisch krank war. Mittlerweile wissen wir, dass die Dame mitnichten so mental abwesend war, wie im Comic von Schwartz dargestellt, sondern vielmehr sehr bewusst aufgrund falscher Behauptungen versuchte, Profit aus dem Glauben an ihre vermeintliche Identität zu schlagen. Aber das war nicht das, worum es dem Autor und Zeichner bei seiner Erzählung ging.
Wie bereits beschrieben, weichte Schwartz zum Ende hin von den belegten Tatsachen bewusst ab. Botkin selbst starb bereits 1969 und auch nicht er war es, der die sich im hohen Alter befindende Czenstkowski bzw. Anderson aus dem Altenheim entführte, sondern ihr späterer Ehemann, der Historiker John Manahan. Schwartz lässt den Leser dafür sehr früh wissen, dass es sich bei der Figur um eine Betrügerin handelt und erzählt auf verschiedenen Zeitebenen die Geschichten beider Figuren, von Franziska und Gleb, und dem blinden Glauben an eine Ikone bzw. die Frau, die man dafür hält. Die Ikonisierung und die Macht der Verbildlichung als solches steht dabei merklich im Vordergrund. Ob durch die selbst gezeichneten Bilder Botkins zu Kinderzeiten, die Gemälde des Zarenpalastes oder die immer wieder eintretenden Zwischenspiele zur Historie der Ikonen, der Einfluss, den Bilder und Ikonen auf den Menschen nehmen können, soll immer wieder betont werden.
Das alles gestaltet den Comic sehr komplex und fordert den Leser regelrecht heraus, da die unterschiedlichen Zeitebenen, Figuren, Anspielungen und Settings die volle Aufmerksamkeit abverlangen. Wer bei all den dramatischen Verwebungen bisweilen den Faden verliert, kann am Ende des Bandes einige Fakten zur Geschichte und den realen Figuren nachlesen. Was bleibt, ist eine intensive wie traurige Geschichte, ambitioniert erzählt und nachhaltig präsentiert. Ein Comic über den in diesem Jahr noch sehr viel gesprochen wird. Zurecht.
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Passionierter Fanboy & Comic-Nerd. Ist seit vielen Jahren im Netz als Blogger unterwegs und fungiert als Betreiber und Autor von bizzaroworldcomics.de.
Zudem wirkt er als Autor für Fachmagazine wie Comic.de und stellt 1/3 Sprechblase bei POW! - Ein ComicPodcast. Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern im Harz.
Schon gelesen und für gut befunden. Auch wenn das keine leichte Kost war.